GER 343: German Literature
Oregon State University
June 05, 1997


Friedrich Dürrenmatt
1921 - 1990


von Angela von Streit

(leicht editiert von Kurt Fendt)


Lebenslauf

Friedrich Dürrenmatt wurde am 5. Januar 1921 in Konolfingen, einem Schweizer Dorf im Kanton Bern, geboren. Sein Vater war protestantischer Pfarrer des Dorfes. Drei Jahre später kam seine Schwester Vroni zur Welt. 1935 zog die Familie nach Bern um. Vermutlich waren finanzielle Gründe der Anlass dazu. Die Weltwirtschaftskrise machte sich zu diesem Zeitpunkt auch in der Schweiz bemerkbar und das mittelständische Bürgertum wurde ärmer. Friedrich Dürrenmatt besuchte zunächst das Berner Freie Gymnasium, dann das Humboldtianum, wo er 1941 die Maturitätsprüfung ablegte. Er war kein besonders guter Schüler und bezeichnete selbst seine Schulzeit als die übelste Zeit seines Lebens. Die Schule wechselte er, weil ihm der Unterricht nicht gefiel, er schlechte Noten hatte und durch sein Verhalten bei den Lehrern aneckte.

Noch in Konolfingen begann er zu malen und zu zeichnen, eine Neigung, die er sein Leben lang verspüren sollte. Er illustrierte später manche seiner Stücke, verfasste Skizzen, zum Teil ganze Bühnenbilder. 1976 und 1985 wurden seine Bilder in Neuchatel, 1978 auch in Zürich ausgestellt. Trotzdem begann er im Jahr 1941 Philosophie, Naturwissenschaften und Germanistik zu studieren, zunächst in Zürich, aber schon nach einem Semester in Bern. Er hatte es mit dem Studium nicht besonders eilig und entschied sich wohl schon 1943, nicht die akademische, sondern die schriftstellerische Laufbahn einzuschlagen. Sein erstes veröffentliches Stück entstand 1945/46: Es steht geschrieben. 1947 fand die Urraufführung statt. 1947 heiratete er die Schauspielerin Lotti Geissler und sie zogen nach Ligerz am Bieler See. Die ersten Jahre bis 1952 als freier Schriftsteller waren finanziell schwierig für Dürrenmatt und seine bald fünfköpfige Familie. Dann besserte sich die finanzielle Situation, besonders wegen der Aufträge von deutschen Rundfunkanstalten, aufgrund derer einige Hörspiele entstanden. Ausserdem wird zu dieser Zeit der Verlag der Arche zu seinem Stammverlag. Des weiteren begann er Detektivromane zu schreiben, die zum Teil als Fortsetzungsgeschichten im Schweizer Beobachter veröffentlicht wurden. Die Dürrenmatts bezogen 1952 ihren dauerhaften Wohnsitz in Neuchatel.

1950 entstand sein Theaterstück Die Ehe des Herrn Mississippi, mit dem er seinen ersten grossen Erfolg auf den bundesdeutschen Bühnen verzeichnen konnte. Weltweiten Erfolg erzielte er mit seiner Komödie Der Besuch der alten Dame. Die Physiker, er bezeichnete dieses Werk ebenfalls als Komödie, wurde das erfolgreichste Theaterstück in der Theatersaison 1962/63 und 1982/83. Dürrenmatt erhielt etliche Preise für sein Schaffen, das neben Theaterstücken, Detektivromanen, Erzählungen und Hörspielen auch Essays und Vorträge umfasst. Da wäre zum Beispiel 1959 der Mannheimer Schillerpreis, 1960 der Grosse Preis der Schweizerischen Schillerstiftung und 1977 die Buber-Rosenzweig-Medaille in Frankfurt. 1969 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Temple University in Philadelphia verliehen und er erhielt Ehrenpomotionen in Jerusalem und Nizza. In den sechziger Jahren stand Dürrenmatt mit seinen Theaterwerken auf dem Höhepunkt seines Oeffentlichkeitserfolges.

Dürrenmatt widmete sich auch, teilweise sogar hauptberuflich der praktischen Theaterarbeit, erst an Basler Bühnen, nach einem Herzinfarkt im Oktober 1969 in der Neuen Schauspiel AG in Zürich, schliesslich in Düsseldorf. Dort fanden auch zwei seiner Uraufführungen statt, Porträt eines Planeten und Titus Andronicus. Er inszenierte mehrere spektakuläre Wiederaufführungen seiner eigenen Stücke, zum Beispiel Der Meteor (1964/65) 1978 in Wien.

Besonders in den achziger Jahren folgte wieder eine Auszeichnung der anderen, u.a. der Oesterreichische Staatspreis für Europäische Literatur, der Georg-Büchner-Preis und der Prix Alexei Tolstoi der Association internationale des Ecrivains de Romans Policiers.

Dürrenmatt nahm als gesellschaftskritischer Autor in Essays, Vorträgen und Festreden Stellung zur internationalen Politik. Er reiste viel, zum Beispiel 1969 nach USA, 1974 nach Isräl und 1990 nach Polen und Auschwitz. Es entstanden die Sätze aus Amerika (1970) und der Pressetext Ich stelle mich hinter Isräl (1973). 1990 hielt er zwei Reden auf Vaclav Havel und Michail Gorbatschow, die unter dem Titel Kants Hoffnung erschienen.

Im Jahr 1983 starb seine Frau Lotti. Dürrenmatt heiratete 1984 die Schauspielerin, Filmemacherin und Journalistin Charlote Kerr. Zusammen brachten sie den Film Porträt eines Planeten und das Theaterstück Rollenspiele heraus. Am 14. Dezember 1990 starb Friedrich Dürrenmatt in Neuchatel.

Frühe Einflüsse der Umwelt

Dürrenmatt stammte aus einem protestantischen Elternhaus, einem recht typischen Hintergrund für Schriftsteller aus dem deutschsprachigen Raum (z.B. Schiller, Lessing, Mörike). Die soziale Stellung seines Vaters hatte ihn in seiner Kindheit etwas zum Einzelgänger unter der bäuerlichen Jugend seines Heimatdorfes werden lassen. Seine Freizeit in seiner Kindheit verbrachte er mit Streifzügen durch die nähere Umgebung, mit Fussballspielen und der Lektüre von alten Sagen und Mythen, genauso wie Gullivers Reisen, Karl Mays und Jules Vernes Romanen.

Mit Sicherheit wurde er von dem protestantischen Glauben seines Elternhauses beeinflusst. Teilweise wird Dürrenmatt als Vertreter eines protestantischen Theaters angesehen, so wie Claudel als Vertreter des katholischen (Bänziger 137). Sein erstes Drama Es steht geschrieben ist so gestaltet, dass es sich "zwischen Brechts epischen Theater und den mittelalterlichen Mysterienspielen die Mitte [hält]" (Bänziger 133). Mysterienspiele waren die erste Form von Theater nach der Antike in Europa, in denen religiöse Themen für die weitgehend analphabetische Bevölkerung dargestellt wurden. Dürrenmatt greift also auf abendländische Tradition zurück, wobei es bei Gerhard P. Knapp heisst, "man [habe] gelegentlich versucht, ein protestantisches Glaubensbekenntnis in Dürrenmatts Werk hineinzulesen" (Knapp 2). Aufschluss über seine Einstellung kann die Beschreibung eines seiner Freunde, Teo Otto, geben. Dieser bezeichnet die Gespräche unter ihnen als sehr christlich und nennt Dürrenmatt einen "[Moralisten], der sich unmoralisch und antireligiös gibt" (Spycher 24).

Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Dürrenmatt während seiner Jugend besonders an den politischen und gesellschaftlichen Ereignissen der Zeit Anteil nahm. Die auf Neutralität bedachte Schweiz wurde etwas verspätet auch von der Weltwirtschaftskrise ergriffen und konnte sich einer politischen Stellungnahme innerhalb Europas nicht ganz entziehen. Als Zufluchtsort für viele Künstler, die von den Nazis als entartet bezeichnet und vertrieben wurden, wurde die Schweiz aber im Vergleich zu anderen europäischen Ländern kaum erschüttert. Der relativ kleine dreisprachige Staat mit den kulturellen Zentren Zürich, Bern und Basel im deuschsprachigen Raum ist grösstenteils ein Alpenland. Er ist in Kantone eingeteilt, die jeder für sich Abstimmungen abhalten können. Die zum Teil sehr reichen und mondänen Städte mit sehr liberaler Politik (z.B. Drogenpolitik) stehen im Gegensatz zu, nach westlicher Auffassung, rückständigen Regelungen der ländlichen Kantone. So wurde in einem kleinen kleinen Kanton in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schliesslich per demokratischer Abstimmung das Wahlrecht für die Frauen eingeführt.

Dürrenmatt sagte später, er sei in einem "[gespenstischen] Idyll" (Knapp 3) aufgewachsen. Die ländliche Umgebung, die Jugendlektüre, vermutlich auch die Gedichte seines Grossvaters waren prägend. Sein Grossvater verfasste Werke, die gegen Kleinbürgertum und Bürokratismus gerichtet waren. Er musste dafür sogar einmal eine zehntägige Gefängnisstrafe absitzen. Bei Dürrenmatt selbst zeigte sich zum ersten Mal der Drang zur Kritik in seinen frühen Kabarettexten, wo er (tages-)politische Themen aufgriff.

Sein beruflicher Werdegang

In der Zeit des Wiederaufbaus nach dem zweiten Weltkrieg bestand gewissermassen ein "Vakuum" ( Knapp 7) in der deutschsprachigen Theaterwelt. Die wirtschaftliche Not hatte vermutlich eine finanzielle Grundlage für das Theater sehr erschwert. Aber die Leere war wahrscheinlich eher dadurch zu erklären, dass sehr viele Autoren ins Exil gegangen waren, die Exilliteratur aber noch kaum bekannt geworden war. Dürrenmatt gehörte mit zu den ersten einer Gruppe von Autoren, die sich mit der gesellschaftlich- politisch-kulturellen Problematik nach dem zweiten Weltkrieg befassten.

In einem Nachschlagewerk, Drama zwischen Shaw und Brecht (1957), wird Dürrenmatt als die "stärkste Potenz des deutschsprechenden Theaters unter den Lebenden " (Bänziger 121) bezeichnet. Trotzdem er von den Kritikern und Literaturwissenschaftlern gelobt wurde, war er selbst der Literaturkritik gegenüber sehr negativ eingestellt. Literaturkritik stellt Ansprüche, nach denen sich "Literatur nur noch studieren, aber nicht mehr machen lässt" (Geissler 74). Er wollte nicht einzuordnen sein, "[galt] lieber als ein etwas verwirrter Naturbursche mit mangelndem Formwillen" (Geissler 73).

Obwohl sein Werk viele verschiedene Gattungen umfasst, war er am meisten dem Theater verschrieben. "Ich gebe die Literatur zugunsten des Theaters auf" (Dürrenmatt in Der Planet 10). So ist auch sein erstes veröffentlichtes Werk ein Theaterstück. Obwohl er "jeden Einfluss Kafkas auf seine frühen Arbeiten [bestritt]" (Knapp 4), tauchen in seiner ersten ungedruckten Komödie, die er als Zweiundzwanzgjähriger schrieb, Kafkas Motive von dem Schloss und der Ohnmacht gegenüber der technologisierten Welt auf. Dürrenmatt befasste sich ausserdem intensiv mit der angelsächsischen Literatur. So wird immer wieder eine Verwandtschaft zu Thorton Wilder betont.

Vor allem aber studierte er die Theatertheorien Bertolt Brechts. Aehnlich wie Brecht möchte er beim Zuschauer eine Distanz zu dem Geschehen auf der Bühne erzeugen. Groteske Darstellungen sollen die Realität verdeutlichen, bildhaft machen, dem Zuschauer durch die übertreibung Erkenntnisse ermöglichen. Dürrenmatt prägt den Satz, dass den verworrenen und komplexen Zusammenhängen des 20. Jahrhunderts nur noch die Komödie beikommt.

Er unterscheidet sich aber deutlich von Brecht darin, dass er auf der Bühne nicht Weltanschauungen und Ideologien präsentieren, noch Theater um eines bestimmten Stiles willen schreiben will. Die Personen in seinen Stücken sind nicht da, um eine Auffassung oder einen Glauben zu zeigen, sondern "die Aussagen sind da, weil es sich in [seinen] Stücken um Menschen handelt, und das Denken, das Glauben, das Philosophieren auch ein wenig zur menschlichen Natur gehört" (Geissler 74). Zum Beispiel schreibt er Frank der Fünfte, Oper einer Privatbank, ein Stück, das zunächst an die Dreigroschenoper erinnern mag. Doch ist bei Dürrenmatt die Musik nur ein Mittel, den Stoff "komödienhaft, theaterfähig" (Brock-Sulzer 101) zu machen. Sie steht im Hintergrund, anders als bei der konventionellen Oper, auch als bei der Dreigroschenoper. Dürrenmatt experimentiert mit der Bühne, sucht nach neuen Möglichkeiten. Er wird aber nach eigener Aussage später mit "dramaturgischen Kniffen" immer sparsamer (in Der Planet 9).

Beim Vergleich von Dürrenmatt und Brecht werden schnell weitere deutliche Unterschiede klar. Brecht sieht im Theater eine Möglichkeit, die Gesellschaft zu verändern. Er will, dass der Zuschauer in einer bestimmten Richtung denkt. Seine Lehrstücke besonders, aber auch die späteren Werke haben didaktischen Charakter. Seine Botschaft ist vom Marxismus geprägt. So soll das Individuum sich der Gruppe unterordnen. Dürrenmatt bedient sich der epischen Mittel Brechts, verwehrt sich aber gegen eine eindeutig belehrende Dramaturgie im Brechtschen Sinne. Vom Marxismus distanzierte er sich spätestens nach seiner Russlandreise 1964 eindeutig.

Andererseits beschreibt Dürrenmatt auch seine Position zum klassischen Drama. In einer Theaterkritik über Die Räuber von Schiller beschreibt er dieses heute als wirkungslos, da der Zuschauer nicht mehr erschrecke, sondern klatsche. Die klassische Tragödie bis Schiller habe in ihrer eigenen Zeit noch gelten können, weil sie eine Welt darstelle, die der Realität noch entsprochen habe. Heute müsse der Autor aber eine List anwenden, damit sich das Publikum Dinge anhört, die es eigentlich nicht gerne hört. So stellt für ihn die "Komödie eine Mausefalle [dar], in die das Publikum immer wieder gerät und immer noch geraten wird" (Geissler 75).

Dürrenmatts Bedeutung für die Theaterwelt

Dürrenmatt beschäftigt sich mit dem Protestantismus seines Vaters, studiert aber selbst Philosophie.In seinem Studium stösst er auf Nietzsches Lehre, der gesagt hat, es gäbe keine religiöse Bindung mehr. Vermutlich von beiden beeinflusst schreibt Dürrenmatt schon in einem seiner frühen Prosawerke: "Ich bin ein Protestant und protestiere. Ich zweifle nicht, aber ich stelle die Verzweiflung dar" (Spycher 33). Er selbst bekennt sich zu seinem Vater, verspürt eine innere religiöse Bindung. In seinen Stücken geht es auch um Fragen des Glaubens und der Moral, die aber oft verbunden werden mit der Entwurzelung und der depressiven Aussichtslosigkeit der Menschen im 20. Jahrhundert, das durch Wissenschaft, Technologie und Massengesellschaften geprägt ist.

Dürrenmatt gehört zu den bedeutenden Dramatikern der fünfziger und sechsziger Jahre, die sich noch "um das grosse Drama...[und] um seine gesamtgesellschaftliche oder gar menschheitliche Relevanz [bemühen]" (W. Barner 682). Anders als in Deutschland können die Schriftsteller in der Schweiz sich den Problemen der Zeit aus einer etwas weltumfassenderen Perspektive nähern. Sie sind nicht so unmittelbar wie ihre deutschen Kollegen von der Schuld ihrer Nation, den Zerstörungen des zweiten Weltkriegs und dem Holocaust beeinflusst.

Dürrenmatt möchte dem Zuschauer Zusammenhänge und Fakten verdeutlichen, ohne ihn dabei in eine eindeutige politische oder ideologische Richtung zu drängen. Er ist ein gesellschaftskritischer Schriftsteller, der an der antibürgerlichen Kritik der sechsziger Jahre teilhat und sich ëliterarisch aktiví an der Politik seiner Zeit beteiligt. Er kritisiert ausserdem das schweizerische Sozialsytem, das Militär und das helvetische Moraldenken. In seiner letzten öffentlichen Rede bezeichnet er die Schweiz sogar als "Gefängnis" (W.Barner 937).

Laut W. Barner begeht Dürrenmatt den Fehler, auch in den siebziger und achtziger Jahren noch "Welttheater inszenieren [zu wollen]" (683). Die Strömungen der Zeit sind anders und seine Werke werden nicht mehr so erfolgreich aufgenommen, da der Verdacht besteht, er wiederhole seine Ideen nur noch. Es bleibt aber schliesslich ganz eindeutig festzustellen, dass Dürrenmatt im Laufe seines Lebens einen ganz eigenen Stil entwickelt.

Die Physiker als Beispiel für sein dramaturgisches Werk

Die Physiker werden zu Dürrenmatts zweitem grossen Welterfolg. Ebenfalls wie bei Der Besuch der alten Dame entsteht auch eine Verfilmung. Das Stück wird zum meistgespielten Werk in den Spielzeiten 1962/63 und 1982/83 auf deutschsprachigen Bühnen. 1980 entstand im Rahmen der Gesamtausgabe eine Neufassung.

Dürrenmatt wählt die streng klassische Form. Er hält sich an Einheit von Ort, Zeit und Handlung. So verlässt er nie den Gemeinschaftsraum der Irrenanstalt "Les Cerisiers" und die Handlung würde im echten Leben auch nicht länger dauern als auf der Bühne. Sogar die Pause passt in die reale Zeit. Dass er diese Form wählt mag überraschen, denn besonders sein Werk unmittelbar davor, Frank, der Fünfte, unterscheidet sich in formaler Hinsicht stark. Er erklärt diesen Wechsel damit, dass "einer Handlung, die unter Verrückten spielt, .... nur die klassische Form [beikommt]" (Brock-Sulzer 132). Laut G.P. Knapps stellt Die Physiker Dürrenmatts klarste Komposition dar.

Die internationale Politik zur Zeit der Entstehung des Werkes war vom Koreakrieg, dem Mauerbau und der Kubakrise geprägt. Das Wettrüsten der Supermächte nahm stetig zu und das Verhältnis der beiden Blocks wurde immer angespannter. Ein Atomkrieg schien fast unvermeidbar. Die Welt hatte bis dahin die Explosionen der beiden Atombomben in Japan gesehen. Die Frage war, ob es bei dem Kalten Krieg bleibe oder ob dieser wieder zu einer atomaren Auseinandersetzung führe.

Dürrenmatts Botschaft besteht darin, dass das Schicksal der Menschheit nicht in den Händen des Einzelnen liegt. Für die wissenschaftlichen Errungenschaften sind alle verantwortlich. Die Tragik ist, dass die genialen Forscher diese Verantwortung vielleicht noch verspüren mögen, aber durch unvorhersehbare Zufälle ihr Wissen in den Besitz scheinbar normaler, tatsächlich aber verrückter Menschen geraten kann. Die Chefärztin der Klinik, letzter Abkömmling einer hochadligen, degenerierten Familie, kann als Repräsentantin einer alten, überkommenen Weltordnung angesehen werden, die den Anforderungen der Zeit nicht mehr gerecht wird und die Welt unter Umständen ihrem Untergang entgegen führt.

Nachdem Dürrenmatt das Theaterstück geschrieben hat, fügt er 21 Punkte hinzu, Anmerkungen, die das Werk verständlicher machen sollen. Dabei geht er besonders auf das Paradoxe ein. Er sagt, "im Paradoxen [erscheine] die Wirklichkeit" (Dürrenmatt in Die Physiker 79). Sein Ziel ist es, dem Zuschauer diese Wirklichkeit nahe zu bringen, dadurch, dass er ihn schockiert. In seiner 9. Anmerkung schreibt er, dass "[planmässig] vorgehende Menschen der Zufall am schlimmsten trifft, wenn sie durch ihn das Gegenteil ihres Zieles erreichen". Ausserdem heisst es weiter, dass weder die Logiker, noch die Dramatiker, noch die Physiker das Paradoxe vermeiden könnten.

Der Zuschauer kann zunächst den Eindruck bekommen, es handle sich um eine Detektivgeschichte mit ein paar Mordfällen und merkwürdigen Irren. Das Rätsel scheint sich zu lösen, wenn sich heraus stellt, dass Möbius genau nach seinem Plan handelt. Er hat sich ins Irrenhaus begeben, um der Welt sein "System aller möglichen Erfindungen" (Die Physiker 37) vorzuenthalten und damit den Untergang der Erde zu vermeiden. Auch die beiden anderen Physiker sind eigentlich nicht psychisch krank, sondern stellen sich als Spione heraus, die die Formel von Möbius bekommen wollen. Dann tritt der Schock für das Publikum ein, wenn sich zeigt, dass die Aerztin des Anstalt alle Fäden des Geschehens in der Hand hat. Sie hat die Physiker längst durchschaut und ihre Planmässigkeit ausgenutzt. Sie hat damit gerechnet, dass die drei Herren die Krankenschwestern umbringen, wenn diese ihre Liebe gestehen. Die Gespräche der Physiker sind bespitzelt worden und die vernichteten Manuskripte von Möbius wurden längst vorher gesichert. Jetzt sind die drei Physiker des Mordes überführt und das Sanatorium ist umstellt. Sie haben sich selbst durch ihre planmässige Handlungsweise in ihr Gefängnis gesperrt und die Weltformel von Möbius gerät aufgrund des schrecklichen Zufalls, dass er an diese machtbesessene Aerztin geraten ist, an die Oeffentlichkeit. Daran scheinen die drei Physiker dann wirklich den Verstand zu verlieren. Es ist also genau das Gegenteil des Planes eingetreten, durch den Zufall bestimmt, der die Wirklichkeit zum Paradox macht. Dürrenmatt ist als Autor und Regiesseur ein Werk gelungen, durch das "das deutsche Theaterhandwerk eine [bis dahin] eher seltene unmittelbare Schlagkraft gewonnen hat" (Brock-Sulzer 114).


Bibliographie

  1. Hans Bänziger. Frisch und Dürrenmatt. Bern: A. Francke AG Verlag, 1960.
  2. Wilfried Barner (Herausgeber). Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. München: Verlag C.H. Beck, 1994.
  3. Elisabeth Brock-Sulzer. Friedrich Dürrenmatt. Zürich: Verlag der Arche, 1964.
  4. Friedrich Dürrenmatt. Die Physiker. Zürich: Verlag der Arche, 1962.
  5. Friedrich Dürrenmatt. Porträt eines Planeten. Zürich: Verlag der Arche, 1971.
  6. Rolf Geissler. Zur Interpretation des modernen Dramas. Frankfurt: Verlag Moritz Diesterweg, n.D.
  7. Gerhard P. Knapp. Friedrich Dürrenmatt. Stuttgart: Metzler, 1980.
  8. Schweizerisches Literaturarchiv, Bern, und Kunsthaus Zürich (Herausgeber). Friedrich Dürrenmatt, Schriftsteller und Maler. Zürich: Diogenes Verlag, 1994.
  9. Peter Spycher. Friedrich Dürrenmatt. Frauenfeld: Verlag Huber AG, 1972.