Mark Meier - Winner of the first prize

 

Er schlachtet

Ich blickte zum Fenster hinaus. Der Schnee fiel dick und schnell auf die Erde, und meine Bekannte und Kunstfreundin, die ich erwartete, war noch nicht auf der Straße. Deshalb dachte ich mir, ein bißchen mehr im Museum herumzuschweifen. Den Namen eines Malers nach dem anderen las ich, das Plaudern der selbstgerechten Kunstkritiker hörte ich auch. Als ich mich nach kurzer Zeit auf einen Stuhl setzte, bemerkte ich etwas anders. Eine kleine Statue verbarg sich in der Ecke. Sie zog mich an, und ich stand auf, um dieses Geschöpf näher anzuschauen. Ernst Barlach, Der Rächer, 1914, aus Bronze. Ich blieb stehen und ließ sie die Geschichte erzählen.

Nach der Aufregung dieses Nachmittags ruht sich das Dorf wieder aus. Die Lampen sind ausgelöscht, und die Gassen bleiben wieder einmal leer. Aber jetzt kommt ein Mann gelaufen. Er kommt näher und näher, doch ganz still, die Straße entlang. Wegen der Finsternis kann ich ihn vom Hintergrund kaum unterscheiden, aber endlich sehe ich sein Gesicht. Das Mondlicht genügt. Sein eckiges Gesicht sieht aus, als ob es bald weinen würde. Dieses und sein unregelmäßiges Kleid interessieren mich. Kommen Sie. Obschon es gegen Mitternacht ist, können wir vielleicht ein Interview machen. Versuchen wir mal.

»Entschuldigung! Könnten Sie uns helfen, einen Bericht zu machen?«

Er bleibt stehen. Wir haben unsren ersten Erfolg.

»Danke, danke schön. Also. Wohin gehen Sie?«

»Nach Belgien. Es gibt einen Krieg.«

»Aber natürlich. Gewiß ist heute ein wichtiger Tag für Europa. Aber was für ein Mensch sind Sie denn, daß Sie so schnell und so spät dorthin sausen? Nachrichtenträger?«

»Ich bin kein Mensch.«

»Wirklich? Aber Sie sehen so aus - zwei Arme, zwei Beine unter Ihrer Kutte, bronzenfarbene Haut, ein dick mit Haar bedeckter Kopf, usw. Wir sind keine Feinde. Sie dürfen sich uns anvertrauen. Bitte, erklären Sie.«

»Kein Mensch, sondern Rächer.«

»Ja, ich verstehe. Es klingt eigentlich dichterisch. Rächer. Natürlich freuen Sie sich so sehr auf unsren Sieg, aber leider haben Sie unsre Truppen verpaßt. Schade. Sie waren herrlich. Haben Sie deshalb vielleicht Ihr Schwert irgendwo gefunden, und - «

»Warum sagen Sie 'Sieg'?«

»Warum nicht, mein geehrter Herr, warum nicht? Sie sollten stolz darauf sein, daß Sie Ihre Heimat schützen. Junge gesunde Männer wie Sie führen zum Sieg, wissen Sie. Das erinnert mich daran, als ich noch jung war, - «

»Sie haben auch 'schützen' gesagt. Ich schütze nichts. Ich schlachte.«

»Sicher schlachten Sie den Feind. Es ist genug. Aber wieso sehen Sie so betrübt aus? Sie tragen Ihr Schwert wie eine schwere Last. Bitte, strecken Sie Ihren Rücken. Sie ziehen keinen Pferdewagen. Stehen Sie stolz aufrecht.«

»Wozu dieser Stolz? Können Sie das Schwert des Todes heben, um die Jugend der Erde zu vernichten, und nicht von dem Gewicht niedergedrückt werden?«

»Entschuldigung, mein Herr, wir brauchen uns nicht darüber zu streiten. Wir kommen aus dem gleichen Land. Ich hätte nur gedacht, - «

»Sie denken ja gar nicht. Stellen Sie sich selbst Ihre kindlichen Fragen, ohne mich zu stören. Ich muß zu meiner Arbeit. Nach Belgien.«

Entschuldigen Sie mich, meine Damen und Herren, wenn ich einen Moment innehalte. Verzeihen Sie. Ich muß mich hinsetzten. Solch einen seltsamen Menschen hätte ich nie erwartet.

Nun ist der Sonnenaufgang an diesem Tag im August bald hier. Der Fremde ist vor vier Stunden verschwunden. Ich kann es noch nicht begreifen. Es läßt mich schwach. Das Dorf wird durch das Geräusch der Artillerie aufgeweckt, obschon der Himmel noch dunkelgrau ist.

»Tag.«

Endlich war meine Bekannte da.