Harald Weinrich

José F. A. Oliver

Von Adelbert von Chamisso ist nach dem Zeugnis Thomas Manns überliefert, "dass er, produzierend, bis zuletzt seine Eingebungen laut auf französisch vor sich hinsprach, bevor er daran ging, sie in deutsche Verse zu gießen". Das paßt zu der schon den Zeitgenossen auffälligen Beobachtung, daß Chamisso, der erst als zehnjähriger Revolutionsflüchtling nach Deutschland kam, seinen französischen Akzent nie ganz abgelegt hat. Und dennoch war, was so zustande kam, um noch einmal Thomas Mann zu zitieren, "deutsche Meisterdichtung".

Deutsche Meisterdichtung, so wollen wir unter dem Schutzmantel Thomas Manns weiterhin sagen, haben wir in unserem Zeitalter auch von einem anderen Autor zu erwarten, der aus der Fremde zu uns gekommen ist: José Oliver, dem Chamisso- Preisträger des Jahres 1997. Bei diesem Dichter mit dem spanischen Namen hören wir nun freilich keinen spanischen Akzent in der Stimme. Er ist im Jahre 1961 als Sohn spanischer Eltern schon in Deutschland geboren und nicht nur mit der deutschen Sprache, sondern sogar mit der alemannischen Mundart seiner Schwarzwälder Heimat aufgewachsen. So können wir uns diesen Mann aus dem Schwarzwaldstädtchen Hausach, dessen Muttersprache gleichwohl das andalusische Spanisch ist, auch nicht als einen Autor vorstellen, der seine deutschen Gedichte zuerst mit spanischer Zunge probt. Ausmalen dürfen wir uns jedoch durchaus, dass er, bevor er mit vollkommener Beherrschung unserer Sprache deutsche Verse zu Papier bringt, zu seiner Anregung und Einstimmung viele spanische Verse in seinem Kopf bewegt, herrliche Verse von Miguel Hernandez, Rafael Alberti, Juan Ramon Jimenez und manchen anderen Autoren, denen wir das neue Siglo de Oro der modernen spanischen Dichtung zu verdanken haben, vor allem aber von Federico Garcia Lorca, dem José Oliver sich am nächsten verwandt fühlt, da in seinen Versen der Geist Andalusiens selber Poesie geworden ist. "Dich stottere ich in jeden Vers", schreibt er einmal mit Bescheidenheit von seiner deutschen Lorca-Nachfolge, aber wer einmal das Glück gehabt hat, einem Gedichtvortrag von José Oliver beizuwohnen und zu hören, wie er diese Verse gar nicht stotternd, sondern meisterhaft rezitierend, stellenweise auch a cappella singend Klang werden lässt, kann ermessen, welche Bereicherung des lyrischen Ausdrucks die deutsche Dichtungssprache hier von Spanien her erfahren hat. Wir deutschen Leser wollen uns daher mit jener poetischen Huldigung an Federico Garcia Lorca identifizieren, die José Oliver unter dem spanischen Titel homenaje a federico garcia Lorca als einen seiner schönsten Texte dieser Zeit geschrieben hat. Das Gedicht beginnt mit den Versen:

mit leisen sohlen gehe ich auf dich zu

fast verschämt buchstabiere ich                                                                                                             -

deinen namen: f e d e r i c o und deine verse: verde que te quiero verde.

Wenn nun ein deutscher Leser (oder Zuhörer) dieses in das deutsche Gedicht eingelassene spanische Lorca-Zitat nicht versteht, so ist er, weil er sich ganz dem verfremdeten Klang hingeben kann, nicht hoffnungslos im Nachteil gegenüber einem anderen Leser, der hier übersetzen kann: "grün, wie ich dich liebe grün". Das Grün Andalusiens - ein kräftiges Olivgrün - ist auch sonst in den Versen des José Oliver, des Andalusiers aus dem Schwarzwald, anwesend, wenn er in einem anderen Gedicht von sich spricht:

ein olivenbaum war ich mit verdorrten früchten und ich fand das wasser

So darf auch Rafik Schami, gleichfalls Chamisso-Preisträger, von José Oliver sagen: "Wie ein Olivenbaum wurzelt seine Dichtung tief und verzweigt sich ;m Boden jahrhundertelanger Erfahrung seiner Ursprungsheimat Andalusien."

Haben wir nun das Recht, diesen Autor einen Heimatdichter zu nennen, wenn auch vielleicht einen solchen mit doppelter Heimat? Können wir so seine ersten beiden Gedichtbände lesen, die als Titel haben: "Auf-Bruch" (1987) und "HEIMATT(!) und andere FOSSILE TRAUME" (1989)? Das gäbe von José Oliver ein ganz falsches Bild. Um einem solchen Fehlverständnis vorzubeugen, hat der Autor dem zweiten dieser Bände, in denen zwar auch einige Gedichte mit alemannischen Versen, aber durchmischt mit Faust- Zitaten, zu lesen sind, ein Vorwort beigegeben, das jeden Gedanken an Heimattümelei, dörflich oder urban, von diesseits oder von jenseits der Pyrenäen, wegwischt. Jede Sprachgestalt, deutsch oder spanisch, wird von José Oliver verweigert, wenn sie der Fremde draußen und der "Fremde im Innern" nicht auf den Grund geht und den Leser nicht lehrt, in dieser Welt "fremdlings" und "flüchtlings" zu leben. So ist auch zu verstehen, daß gerade in diesem Gedichtband das Lorca-Gedicht steht, von dem ich bisher nur die Anfangsverse zitiert habe. Seine Schlußverse dürfen hier jedoch nicht ungenanot bleiben. In ihnen entsteht für einen poetischen Augenblick die zwanghaft-verwegene Hoffnung, es könnten vielleicht durch die Worte eines Gedichtes, wenn alle Kraft und Leidenschaft eines Menschen in ihnen zusammengefaßt ist, die Kugeln des Exekutionskommandos noch aufgehalten werden, die am Anfang des Spanischen Bürgerkrieges den Dichter Federico Garcia Lorca, weil er Republikaner war und als -Roter- galt, hingemordet haben:

morgen federico morgen wenn es hell wird werde ich auf die straße stürmen unverschämt und werde brüllen - vor dem ersten schuß federico verde que te quiero verde

Wenn es gestattet ist, die frühen Gedichte von José Oliver - in freier Anlehnung an eine von Picasso her bekannte Periodisierung - die Gedichte seiner grünen, und zwar olivgrünen Periode zu nennen, so umfaßt diese Periode, wie wir gesehen haben, auch Gedichte, die bereits den Ton angeben für die zweite, nun zu besprechende Periode, die ich die graue, und zwar aschengraue Periode dieses Dichters nennen möchte. Zu ihnen gehören die Gedichtbände "Weil ich dieses Land / liebe' (1991), "Vater unser in Lima" (1991) und vor allem der nach meinem Urteil besonders schätzenswerte Gedichtband mit dem suggestiven - und natürlich ironisch zu verstehenden - Titel "Gastling" (1993). Der letztgenannte Band umfaßt insbesondere die Gedichte, die José Oliver geschrieben hat, nachdem er, der in seinem Schwarzwaldstädtchen inzwischen halbwegs heimisch gewordene Gastling aus Spanien, sich sozusagen über Nacht in einem ganz anderen, durch den Fall der Mauer von Grund auf veränderten Deutschland wiederfand. Jose Oliver hat diese Periode, in der die Weltgeschichte von der Tagespolitik nicht immer deutlich zu unterscheiden war, nicht als eine Zeit des schwarz-rot-goldenen Vaterlandsglücks erlebt. Beklommenheit, Sorge, Angst und Bitternis beherrschen vielmehr nun für einige Jahre seine Gedichte, die manchmal, wenn er in ihnen den Tagesereignissen eng und gelegentlich sehr eng auf den Fersen bleibt, an die Gedichte von Erich Fried erinnern. "Ausländer raus!" wird nun ein dissonanter Klang in seinen Gedichten, und Grau - das Aschengrau verbrannter Ausländerwohnstätten - wird ihre dominante Farbe. Auch die Erinnerung an Auschwitz mischt sich in diese beklemmenden Bilder. Ich möchte hier ausdrücklich betonen, daß ein Mann wie José Oliver, der dieses Deutschland weiterhin sein "mein-land" nennt, das Recht und vielleicht sogar die Pflicht hat, uns einheimische Leser nicht nur mit schönen und beschönigenden Bildern zu beschenken. Auch der Holocaust, die nicht zu vergessende Shoah, gehört zu den Themen, die in der sogenannten Ausländerliteratur, wo sie bisher - von Elazar Benyoetz abgesehen - fast ganz ausgespart waren, nicht nur vorkommen dürfen, sondern mit Leidenschaft ergriffen werden müssen, da die notwendige Erinnerung an diese Katastrophe unserer Geschichte nur mit Kunst und Literatur wachgehalten werden kann. Wir sind José Oliver daher dankbar auch für diese oft sehr deutschlandkritischen Gedichte, aus deren Aschengrau sich übrigens ein Gedicht von ganz ungewöhnlicher Kraft und Schönheit - ja, Schönheit - heraushebt. Es ist ein langes Gedicht mit dem Titel "im gerippe eines tages", in dem die Orte Hoyerswerda, Hünxe, Mölln - aber es könnten auch andere sein - bei Namen genannt werden und ein anderer Vers sich als Refrain durch das Gedicht zieht, der lautet: "ein tod wie auschwitz immernoch". Von diesem zugleich beklemmenden und befreienden, in jeder Hinsicht unerhörten Gedicht, das schwerlich ein Binnendeutscher so schreiben könnte, möchte ich sagen, daß es vor dem Anspruch der Celanschen Todesfuge bestehen kann.

Wie schreibt man weiter, wenn man dort angekommen ist? Gar nicht oder ganz anders. Ich habe daher jetzt noch von einer dritten Periode in der Dichtung des Gastlings José Oliver zu berichten, wie sie sich in dem jüngsterschienenen Gedichtband "austernfischer marinero vogelfrau" (1997) darstellt. Das sind nun tatsächlich Gedichte ganz anderer Art, in denen ein oberflächlicher Leser vielleicht nicht einmal den Jose Oliver der olivgrünen oder aschengrauen Periode wiedererkennen könnte. Zwar hatte dieser Autor auch in seinen früheren Gedichten schon die alte Wahrheit bezeugt, daß Verse nicht mit Ideen, sondern mit Wörtern gemacht werden, aber erst in diesen bisher letzten Gedichten hat er seine Poesie ganz tief in die deutsche Sprache eingeschrieben, eingegraben, ja, die deutsche Sprache mit ihnen umgegraben. Schwierige, dunkle, vielfach hermetische Gedichte sind auf diese Weise entstanden, mit nie gehörten Wörtern wie "verinnerung", "augenbühne-, -silbenschlag-, -notkunft-. Fast nichts mehr ist vom frühen Olivgrün geblieben, ebenfalls fast nichts mehr vom späteren Aschengrau. Es herrscht vielmehr nun in diesen Gedichten - man darf an den Spanier Gongora, den Franzosen Mallarmé oder, was die deutsche Sprache betrifft, an den späten Celan denken - ein distanziert-kaltes Meerblau, das Oliver, der marinero dieser Gedichte, bei Gelegenheit auch ein "Küstenblau" oder "Horizontblau" nennt. Ein -sturmbestürztes Blau", "ungebändigtes Lichtblau" und "Blues"-Blau wird es an anderen Stellen des Gedichtbandes genannt, und in der einmal berufenen "Leiblichkeit des Himmelst' ist es auch metaphorisch anwesend. Doch selbst mit diesem Farbschlüssel kann ich dem prospektiven Leser dieses Gedichtbandes, in dem der Autor seine Sprachkunst bis zum äußersten ausreizt, noch nicht versprechen, daß er allen in ihm enthaltenen Gedichten ihre tiefverborgenen Geheimnisse entreißen kann. Eines der kürzeren und ausnahmsweise recht leicht aufzunehmenden, jedenfalls aber besonders schönen Gedichte dieses Zyklus will ich gleichwohl hier zitieren, und ich bin sicher, daß es dem Leser sogleich gefallen wird. Es lautet:

dritter jänner, ein spaziergang -

das jahr ist bereits notgewürfelt/ augen

zähit der kalender die freudenspur der kinder

im schnee/ holunder zeisig amseizittern

Bei einer zweiten Lektüre darf man sich übrigens durch Olivers Verse an Celans ''Tubingen, Jannert' und durch dessen Vermittlung an Holderlin erinnern lassen.

Doch will ich weder bei dem zitierten Gedicht, noch bei den anderen, manchmal viel schwerer zu verstehenden Gedichten dieses Bandes den Versuch machen, rasche Erklärungen anzubieten, möchte aber diejenigen Leser, die in der Lektüre nicht nur Entspannung, sondern auch Herausforderung suchen, zu einer genauen, manchmal verzweifelt genauen Lesearbeit an diesen Gedichten einladen, selbst wenn dabei oft der Eindruck entstehen mag, es seien Sprachgebilde aus einer labyrinthischen Welt und Zeit, -als die spinne den faden verlor". Es lohnt sich auch hier und vielleicht gerade hier, José Oliver zu lesen. Er ist ein Mann, der viel wagt und daher am Ende wohl gewinnen wird. Denn wir haben es bei diesem Chamisso-Preisträger mit einem Autor zu tun, der das Zeug und Werkzeug hat, deutsche Verse zu schreiben, nach deren Lektüre wir sagen werden: Ecce poeta.

Rede zur Verleihung des Adelbert-von-Chamisso-Preises 1997