SPIEGEL-Artikel


UNIVERSITÄTEN

"Hier wird die Zukunft erfunden"

Das Massachusetts Institute of Technology gilt als Amerikas Brutstätte für kreative Köpfe und Firmengründer: Studenten bauen den denkenden Kühlschrank, im Labor entsteht eine künstliche Ohrmuschel. Wichtiger Geldgeber der Uni: das US-Verteidigungsministerium.

Als Steve Mann in den Bus einstieg, zeigten seine elektronischen Temperatursensoren genau null Grad Außentemperatur. Ein eiskalter Wind fegte Schneeflocken durch die Häuserschluchten von Boston, auf den Straßen lag grauer Matsch.

Steve beschloß, während der Fahrt lieber nicht nach draußen zu gucken. Aus dem Internet lud er sich bunte Web-Seiten auf die Innenseite seiner Spezialbrille. Dann flippte er durch einige Fotos von seiner letzten Ferienreise, die er in seiner Computerdatenbank gespeichert hatte. Zum Schluß loggte er sich noch rasch in die Elektronikgalerie des New Yorker Museums of Modern Art ein.

Plötzlich flackerte eine E-Mail über seine Brillengläser. Seine Frau, 630 Kilometer entfernt im kanadischen Toronto, hatte sie abgeschickt. An ihrem Heimcomputer konnte sie seine Fahrt durch das verschneite Boston genau verfolgen.

Die Aufnahmen, die über ihren Bildschirm flimmerten, stammten von einer Mini-Kamera. Steve trägt sie ständig auf seinem Kopf, alle paar Augenblicke speist sie neue Standbilder in das weltweite Datennetz ein.

Die Szene ist nicht aus dem neuesten Science-fiction-Film, sondern Alltag im Leben von Steve Mann. Der Mensch mit der High-Tech-Maske ist Doktorand am Massachusetts Institute of Technology (MIT), einer der elitärsten Technologie-Hochschulen der Welt. Dort nennen sie ihn einen Cyborg, eine Mischung aus Mensch und Maschine.

Seine Augen stecken hinter einer schwarzgetönten Brille, die sich mit Hilfe einer Spezialoptik in einen Computerbildschirm verwandeln läßt. An seiner Stirn kleben Linsen, Drähte und andere Computerteile. Aus seiner Mütze wächst eine Antenne.

Sein elektronisches Hirn ist ein Mini-Computer an der Hüfte, über Funk ans Internet angeschlossen und mit einer Spezialtastatur bedienbar. "Nackt" fühle er sich ohne die Maschine, so sagt er, nur noch zum Schlafen legt er die Elektronik ab. "Wir definieren gerade", so erklärt er mit erhobener Stimme, "neue Grenzen für die menschliche Persönlichkeit."

Die Arbeitsstätte des Steve Mann, das MIT, ist eine seltene Ansammlung von Genies, Besessenen und wohl auch Verrückten. Und Amerikas produktivste Erfinder-Uni.

Hier gehen Professoren und Studenten bis an die Grenzen der Wissenschaft. Hier erbrüten sie die Visionen für das nächste Jahrtausend. Und hier schaffen sie das Wissen, mit dem US-Unternehmen die Zukunftsmärkte in aller Welt erobern.

MIT-Forscher programmieren für die Weltraumbehörde Nasa das nächste Mars-Mobil. Sie fahnden nach den Bausteinen für künstliche Intelligenz. Wo der Mensch aufhört und der Computer anfängt, wissen die Forscher manchmal selbst nicht mehr.

In den Labors am Charles River, der die US-Ostküstenstadt Boston vom MIT-Sitz Cambridge trennt, haben sich die Anführer der biotechnischen Revolution eingeschlossen und zerkochen die menschliche Seele zu schnöder Chemie. In ihren Bioreaktoren erzeugen sie menschliche Hautlappen, Gelenkknorpel und Ohrmuscheln.

Sie entschlüsseln die Erbmasse und entdeckten als erste ein Gen, das wuchernde Krebsgeschwüre bremst. Neun der zehn bestverkauften Biotech-Medikamente der letzten Jahre wurden in Laboratorien von MIT-Absolventen entwickelt, sie helfen gegen tödliche Krankheiten wie Krebs, Leukämie, Hepatitis oder Aids.

US-Regierung und Konzerne pumpen jedes Jahr Hunderte von Millionen Dollar in die Wissenschaftsfabrik. Die reichsten Familien des Landes wie der Rockefeller-Clan stecken ihr Kapital in junge Firmen von MIT-Absolventen. Zu den Hochschul-sponsoren gehören auch Softwaregiganten wie Microsoft, Computerfirmen, Chemie- und Pharmakonzerne. Auch deutsche Firmen wie Siemens, die Deutsche Telekom oder Karstadt fördern MIT-Projekte.

Anders als an der Nachbar-Uni Harvard, deren Wissenschaftler pikiert auf ihre kommerzorientierten Kollegen hinabsehen, haben MIT-Forscher keine Hemmungen vor der Industrie. Wie kaum an einer anderen Universität sind Forschung und Marketing, Wissenschaftlerehrgeiz und Profitstreben miteinander verknüpft.

Seit jeher diente das MIT als Entwicklungslabor für US-Regierung und Unternehmen, gehören MIT-Professoren zu den wichtigsten Beratern des US-Präsidenten. Seinen Aufstieg zur führenden High-Tech-Brutstätte verdankt das 1861 gegründete Institut vor allem den US-Militärs.

Im Zweiten Weltkrieg wandelte sich die Uni (Gründungsmotto: Mens et Manus - Geist und Hand) in eine Rüstungsmaschine. MIT-Forscher sollten die Technik konstruieren, mit der die Amerikaner den Krieg entscheiden wollten - und sie setzten alles daran, dem Auftrag nachzukommen.

Sie perfektionierten das Radar, schufen Zünd- und Leitmechanismen für die Atombombe. Später programmierten sie die erste computergesteuerte Luftabwehrmaschinerie des Landes. Sie entwarfen das Navigationssystem für das US-Raketenprogramm und kassieren noch heute 15 Prozent ihres Budgets vom US-Verteidigungsminister.

In den fünfziger Jahren setzten immer mehr Absolventen ihr Wissen gewinnbringend ein, das MIT wuchs zur erfolgreichsten Schmiede für High-Tech-Unternehmer. In einer alten Wollfabrik startete MIT-Student Kenneth Olsen mit einem Partner 1957 die Firma Digital Equipment, heute der zweitgrößte Computerkonzern in den USA. Spätere Kommilitonen gründeten zahlreiche Elektronikkonzerne, darunter auch die berühmte Softwareschmiede Lotus Industries.

Allein in der Umgebung von Boston schufen MIT-Absolventen rund 300 000 Arbeitsplätze, in Kaliforniens Silicon Valley beschäftigen ihre Firmen ein Fünftel der Arbeitnehmer.

Andere Universitäten, wie etwa das kalifornische Stanford, kopierten das MIT-Konzept, und eine kurze Zeit lang sah es so aus, als gerieten die MIT-Forscher ins Hintertreffen. Der Versuch, das menschliche Gehirn im Computer zu klonen, erwies sich als Irrweg. Etliche Forscher aus dem Labor für "künstliche Intelligenz" tauschten ihre Kittel gegen Hemd und Krawatte, wanderten in die Industrie ab.

Anfang der neunziger Jahre hatten zahlreiche Elektronikfirmen um Boston herum dichtgemacht, hohe Löhne hielten Investoren ab. Der Konzern Digital Equipment, einst Paradebeispiel für die Kreativität der MIT-Absolventen, häufte Millionenverluste an.

Die Turnschuhprogrammierer am MIT schienen das Internet-Zeitalter zu verschlafen. Firmen wie Netscape oder Yahoo eroberten das Cyber-Netzwerk von Kalifornien aus. Obendrein erwiesen sich einige Gen-Medikamente als Flop.

Doch in den vergangenen zwei Jahren zog neue Euphorie in die kargen Flure. Mensch und Technik verweben, heißt das verwegene Ziel der Forscher, der "Techno sapiens" ist ihre Vision: Eine Persönlichkeit aus Gehirn und Schaltkreisen.

Produktentwickler des Turnschuhgiganten Nike tüfteln mit Studenten an einem Computer in der Schuhsohle, der Jeanshersteller Levi Strauss will Chips in seine Hosen integrieren. Sicherheitsfirmen setzen auf eine im menschlichen Körper eingespeicherte Computerkennung. Und Pharmakonzerne hoffen auf Millionengewinne mit der Gen-Medizin.

Unter den Studenten ist Gründerfieber ausgebrochen. Sie initiierten eine jährliche Gründerolympiade, bei der die beste Geschäftsidee mit 50 000 Dollar Preisgeld belohnt wird. "Hier will fast jeder seine eigene Firma aufmachen", sagt Wirtschaftsstudent Will Clurman.

Dutzende taten es bereits in den vergangenen Monaten. Die jungen Chefs ziehen in alte Bürohäuser, Fabrikhallen oder umgebaute Garagen und sind kaum älter als 25 Jahre. Sie programmieren Software fürs weltweite Internet oder produzieren Zubehör für die Computerindustrie - und kassieren oftmals ihre ersten Millionen.

Eine verlassene Kirche suchte sich die MIT-Professorin Pattie Maes mit einigen Studenten aus. Hier starteten sie ihren Internet-Suchservice Firefly, einen der neuesten Hits in der Online-community. Intelligente Computerprogramme, "Softwareagenten" genannt, ergründen die Interessen der Firefly-Kunden. Mit dem Geschmack ihrer Kunden im Elektronikhirn gespeichert, suchen die Softwareagenten dann aus den Weiten des Cyberspace passende Video-Clips, Fotos oder Musik zusammen. Wer will, kann gleich online bestellen.

In einer anderen Ecke von Cambridge hat sich Thomas Massie, 24, eingenistet. Dank Massie können Menschen jetzt künstliche Computerwelten erfühlen. Seine MIT-Examensarbeit war ein Sensorarm, der es erlaubt, gleichsam in den Computerbildschirm hineinzugreifen. Eine um Hand und Finger geschnallte Feinmechanik gibt dem Benutzer die

Illusion, als hätten virtuelle Gegenstände Gewicht, ließen sich zusammenpressen oder durchbohren.

Rund 20 Angestellte beschäftigt der Jungunternehmer heute. Forschungslabors, Produktdesigner und Medizintechniker in aller Welt bestellten den magischen Arm aus Boston. Nun will Massie Ärzten mit einem Programm helfen, ferngesteuert Patienten zu operieren. Unterm Bürotisch hat er schon "für die langen Arbeitsnächte" einen Schlafsack verstaut.

Während seine früheren Kommilitonen die ersten Millionen scheffeln, will Steve Mann noch ein Weilchen am MIT bleiben. Seit einigen Wochen bastelt er wieder an seinem Computer herum. Sein neues Ziel: ein Erinnerungsprogramm. Es kann Personen wiedererkennen, die schon einmal vor seiner Stirnkamera standen.

"Unser Erfolgsgeheimnis sind Freiheit und Vertrauen, die wir unseren jungen Forschern entgegenbringen", sagt MIT-Präsident Charles M. Vest. Sein mit Eichenholz getäfeltes Büro steht in merkwürdigem Kontrast zu den kargen Technologie-Kammern der Studenten.

An den Wänden hängen pompöse Ölgemälde seiner Vorgänger, in der Luft liegt Tradition.

Vest steuert einen straff gemanagten Forschungskonzern, einen Brutreaktor für Nobelpreisträger und High-Tech-Millionäre. Rund tausend Professoren lehren an seiner Universität. Sie kümmern sich um zehntausend handverlesene Studenten aus aller Welt. Fast eine Milliarde Dollar flossen 1996 in die Laboratorien seiner fünf Schulen: Architektur, Ingenieurwesen, Sozialwissenschaft, Management und Naturwissenschaft.

Der MIT-Biologe Phillip Sharp, der vor drei Jahren den Medizin-Nobelpreis gewann, destilliert in seinem Labor die Gene tödlicher Krebszellen. Ökonomen wie Paul Samuelson oder Lester Thurow brüten über der Zukunft des Kapitalismus. Der Linguist Noam Chomsky plant in seiner Kammer die nächste Attacke auf die US-Medien.

Im Media Lab hockt der Technik-Guru Nicholas Negroponte ("Total digital") und tüftelt mit seinen Leuten an der schönen neuen Welt. Seine vor elf Jahren gegründete Ideenwerkstatt gehört zu den umstrittensten Einrichtungen auf dem Campus: "Hier wird die Zukunft erfunden", jubeln High-Tech-Freaks, "ein Rotlicht-Bezirk der Wissenschaft", spötteln Forschungspuristen.

Negroponte und sein Kollege Neil Gershenfeld wollen "Dinge zum Denken bringen", so lautet ihr neuestes Projekt, sie wollen Toaströstern, Kühlschränken, Turnschuhen und Hosen "Intelligenz" eintrichtern. Statt den Computer in die Wohnung zu bringen, soll gleich die ganze Wohnung zum Computer werden - zum Wohle ihres Besitzers: "Wir haben zwei Möglichkeiten, unsere Umwelt humaner zu machen", sagt Gershenfeld, "entweder wir eliminieren Technik, oder wir bringen sie näher an den Menschen."

Schon bald könnte den Menschen eine Technologie-Welt besonderer Qualität umgeben - eine Gesellschaft von Mini-Maschinen. Das intelligente Wohnzimmer identifiziert den Eintretenden, sagt freundlich "guten Tag" und lädt den CD-Spieler mit der Lieblingsmusik. Sensoren in der Kleidung fühlen die Temperatur auf der Haut und regeln damit den Heizungsthermostaten. Regt sich Durstgefühl, setzt sich die Kaffeemaschine in Betrieb. Und der Kühlschrank meldet sich mit quäkender Stimme, wenn Butter und Milch knapp werden.

Die Forscher respektieren kaum ein Tabu: Sie erweitern den Körper zum "Body Net", speisen sogar Datenströme ins menschliche Fleisch. Sie planen mit der "Brain Opera" den Angriff auf die Kammermusik, indem sie Laien mit Hand- und Fußbewegungen ein ganzes Orchester elektronisch erzeugen lassen.

Allein im vergangenen Jahr erbrüteten MIT-Forscher 400 Erfindungen, über hundert Patente meldeten sie seit Januar 1996 an, mehr als jede andere amerikanische Universität. Ein Uni-eigenes Patentbüro sorgt dafür, daß die Arbeiten von Studenten und Professoren nicht, wie in Deutschland, in den Archiven der Wissenschaft verstauben.

Es berät Studenten wie Professoren, bringt sie mit Bankiers und Investoren zusammen. Es zahlt die Patentkosten und kümmert sich darum, daß die Uni nicht leer ausgeht: Eine Lizenzgebühr in Höhe von zwei bis drei Prozent derspäteren Verkäufe fließt zurück in die Kassen des MIT.

Personalchefs der besten US-Unternehmen umkreisen die Technik-Werkstatt, um rechtzeitig die jungen Talente abzufischen. Risikobereite Bankiers und millionenschwere High-Tech-Investoren, von den Studenten "angels" genannt, schicken ihre Späher in Labors und Seminarräume auf der Suche nach einem profitträchtigen Investment.

Eine Mischung aus Wissenschaftlerehrgeiz, Pioniergeist und Unternehmerdrang treibt Studenten und Professoren voran. "Das MIT ist Leidenschaft, Folter, Rebellion und ein Stück Wahnsinn zugleich", sagt einer der Studenten.

Ein Hort der Gemütlichkeit ist es nicht. Statt Erhabenheit wie im benachbarten Harvard herrscht Funktionalität. Die Gebäude sind schmucklos, eine Mensa fehlt. Zur Mittagszeit fahren Imbißwagen vor und offerieren Chicken-Curry, Thai-Nudeln oder fettige Pizza. Gegessen wird am Arbeitstisch, vor dem Computer - oder im Stehen auf dem Gang.

Das Nachtleben in Cambridge ist kümmerlich, Kneipen sind rar. Wer hat hier schon die Zeit, ein Bier zu trinken? Statt dessen hocken die Studenten bis in die frühen Morgenstunden in ihren Laboratorien. Abgeschlossen, wie in Deutschland, wird hier nie.

"Folter" ist die gängige Beschreibung der Studenten für die ersten Semester. Vier bis fünf Stunden Schlaf sind die Regel, Magengeschwüre nicht selten. Einige Professoren haben ihren Studenten, die rund 30 000 Dollar Studienkosten im Jahr zahlen müssen, einen freien Tag pro Monat verordnet. In Cambridge heißen sie "suicide-days" - Selbstmord-Tage.

Mathias Müller von Blumencron

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