Gordon A. Craig: Über die Deutschen,
Auszug aus Kapitel 12: Berlin - Spree-Athen und Krisenstadt, S. 310-315

 

Wer West-Berlin in den 70er Jahren einen nur flüchtigen Besuch abstattete, mochte ob solcher Fragen den Kopf schütteln, denn das äußere Bild der Stadt kündete von blühender Gesundheit und Lebenskraft. Der Kurfürstendamm erstrahlte im Neonschein und war gesäumt von schicken Restaurants und Cafés wie dem Bristol und dem Möhring, und die Auslagen des KaDeWe am Wittenberg-Platz und des Kaufhauses Wertheim am Walther-Schreiber-Platz waren angefüllt mit Artikeln, die es an Eleganz mit allem aufnehmen konnten, was Regent Street oder Fifth Avenue zu bieten hatten. Eindrucksvoller als diese Zeugnisse materieller Prosperität boten sich die vielen Anzeichen dafür dar, daß West-Berlin noch immer sehr die Stadt Sophie Charlottes war, mit dem wahrscheinlich besten Symphonieorchester Europas, einem hervorragenden Opernensemble und Theatern wie dem Schiller Theater, der Volksbühne und dem Theater am Halleschen Ufer mit einem erwiesenen Ruf für Neuerungen und kühne Experimente, mit der großen neuen Gedenkbibliothek, die in Deutschland nicht ihresgleichen hat, und einer Vielzahl von Akademien und Forschungszentren und einem regen literarischen Leben auf örtlicher Ebene in Schöneberg, Steglitz und Kreuzberg.

Doch alledem stand der demographische Nachweis dafür gegenüber, daß West-Berlin allmählich seine Lebensenergien verlor. Seine Einwohnerzahl, die 1949 etwa 2 105 000 betragen hatte und bis 1957 auf 2 229 000 angestiegen war, sank im Jahr darauf, und 1964 begann eine stetige Verminderung bis auf 1 926 000 im Jahre 1977, von denen nur 1 737 000 Einheimische waren. Von noch größerer Bedeutung als die Gesamtzahl war die Bevölkerungsstruktur, die das schlechteste Altersprofil in Deutschland aufwies. Ende 1976 waren 22,8% der West-Berliner Einwohner über 65 Jahre alt (in Westdeutschland 13,2%) und nur 15,8% waren jünger als 15 Jahre (etwa 25% in der Bundesrepublik). Außerdem starben etwa 20 000 Westberliner im Jahr mehr, als geboren wurden, und dieser Verlust wurde nicht ausgeglichen durch den natürlichen Zustrom neuer Bewohner aus dem Umland, weil die DDR nur den über 65jährigen den Umzug in den Westen erlaubte. Von den Jahren, die auf den Mauerbau folgten, wiesen nur 1969 und 1970 eine positive Bilanz auf, und die ging zum größten Teil auf das Konto türkischer und jugoslawischer Gastarbeiter. Nach 1970 überstiegen alljährlich die Abgänge die Zugänge. 1976 zum Beispiel zogen 40 566 einheimische Westberliner fort, während 30 015 Personen aus dem Westen zuzogen. Doch zu diesen zählten viele Studenten und junge Leute in der Ausbildung, die nicht vorhatten, in der Stadt zu bleiben.

Besonders beunruhigend wirkten sich diese Bevölkerungstendenzen auf die Arbeiterschaft der Stadt aus, die im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung ständig abnahm. Im Jahre 1970 verließen 3 000 deutsche Arbeiter mehr die Stadt als zuzogen, und zwischen 1971 und 1975 wuchs das Maß der Abgänge gegenüber den Zugängen von 5,6% auf 27% an. Der Westberliner Senat suchte diesem Trend durch ein attraktives Angebot für westdeutsche Arbeiter entgegenzuwirken - Erstattung der Reise- und Wiederansiedlungskosten, steuerfreie Zuschüsse zum Hausbau, Familienzulagen und dergleichen -, das nicht ganz ohne Erfolg blieb. Dennoch schätzte man 1971, daß jeder Dritte, der durch diese Vorteile von der Stadt angezogen wurde, früher oder später seine Meinung änderte und sie wieder verließ, entweder weil er mit seiner Arbeit oder den Lebensbedingungen nicht zufrieden war, oder weil ihn die Berliner Spielart der Klaustrophobie erfaßte, die Angst, gefangen zu sein, ohne entrinnen zu können, wenn die Stadt vom Osten vereinnahmt würde, ein Gefühl, das selbst nach Abschluß des Vier-Mächte-Vertrags von 1971 und des Grundlagen-Vertrags von 1972 nicht gänzlich schwand, weil diese Abkommen mit den Drohungen aus der DDR und den Eingriffen in den Berlin-Verkehr nicht vollkommen Schluß machten. Ja, das ständig wiederholte Argument der DDR, daß Ost-Berlin integraler Bestandteil der DDR sei, WestBerlin aber nicht zur Bundesrepublik gehöre - eine Theorie, die der Grundabsicht der Verträge widersprach -, deutete darauf hin, daß die DDR-Führer die Berlin-Frage nicht als endgültig geregelt betrachteten.

Einen weiteren Grund zur Sorge hinsichtlich der Zukunft der Stadt, der nicht ohne Bezug zur Verminderung der Arbeitskräfte war, stellte die Abnahme der Zahl ihrer Handels- und Industrieunternehmen dar. Zwischen 1961 und 1970 ging die Zahl der Industriefirmen von 3 500 auf 2 370 zurück, und nur ganz wenige neue kamen hinzu. Besonders bedeutsam waren das Absinken der Zahl ortsgebundener und am Ort finanzierter Unternehmen und die Tendenz zur Industriekonzentration in den Händen großer Firmen wie Siemens, AEG Telefunken, Schering, BMW, Daimler Benz, von denen einige ihren Hauptsitz in Westdeutschland hatten, ohne feste Bindung an die Stadt.

West-Berlins wirtschaftliche Lebensfähigkeit, die direkt mit seiner politischen Selbständigkeit verknüpft war, hing letztlich von der Bundesrepublik ab, die die Stadt jährlich mit Zuschüssen in Milliardenhöhe unterstützte, Geldern, die aus der Tasche des westdeutschen Steuerzahlers kamen. Diese finanzielle Beziehung war beiden Seiten unangenehm. In ihrer stolzen Unabhängigkeit waren die Berliner ihren Brüdern im Westen nicht gerade herzlich zugetan. Wie Dieter Hildebrandt schrieb, war, wenn sie das Wort " drüben" gebrauchten, nicht immer klar, ob sie Leipzig oder Düsseldorf meinten. Sie fühlten sich geschmeichelt, wenn ausländische Beobachter den Unterschied zwischen ihnen und den Bürgern der Bundesrepublik hervorhoben, wie dies der (von Hildebrandt zitierte) schwedische Schriftsteller Lars Gustafsson zu Beginn der 70er Jahre tat:

"Zwei Länder können sich nicht mehr voneinander unterscheiden als das narbige das kluge Berlin mit seinem lebhaften, scharfen Intellekt, mit seinen revolutionären Gruppen, marxistischen Kinderläden, mit seinen blauen, roten, weißen Pamphleten seinen Straßencafés und Buchhandlungen, Berlin, diese geheimnisvolle Schmiede zukünftiger Kräfte, eingesperrt hinter hohen Mauern und Minengürteln inmitten einer feindseligen, lehmgrauen Militärdiktatur mit endlosen Kartoffeläckern, dieses Berlin, das alles weiß, alles erfahren und seit langem seinen Zustand akzeptiert hat, und die dumme, geldstrotzende Bundesrepublik mit ihren Supermärkten, ihren transportablen Fernsehgeräten und ihren knarrenden Prachtmöbeln, schweren Teppichen und Sesseln aus schwarzem Leder und Stahlrohr."

Die Westdeutschen ihrerseits brachten den Berlinern gemischte Gefühle entgegen, und man kann wohl sagen, daß die Bewunderung und das Mitgefühl, die sie in Augenblicken der Krise wie 1948 und 1961 für sie empfanden, in ruhigen Zeiten älteren Gefühlen der Antipathie und des Mißtrauens Platz machten. Man hatte Berlin im übrigen Deutschland nie besonders geliebt. Für viele Deutsche war es im 19. Jahrhundert ein fremder Ort, und Konstantin Frantz schrieb 1978, es eigne sich besser zur Hauptstadt eines jüdischen als zu der eines deutschen Reiches. Romantiker wie Adolf Bartels, Wilhelm Schäfer und Julius Langbehn waren überzeugt, daß es einen verderblichen Einfluß auf die deutsche Kultur ausübte, und Friedrich Lienhard forderte eine Vereinigung von "Volk" und "Land" gegen das literarische Berlin und den Modernismus unter Kampfrufen wie "Bestürmt wird nun die schwarze Stadt!" und "Los von Berlin!" In den 20er Jahren standen Besucher aus der Provinz dem Tempo der Stadt oft entgeistert und hilflos gegenüber, und Erich Kästner beschrieb dieses Gefühl einmal in Versen:

Sie stehen verstört am Potsdamer Platz
Und finden Berlin zu laut.
Die Nacht glüht auf in Kilowatts.
Ein Fräulein sagt heiser ,Komm mit, mein Schatz!'
Und zeigt entsetzlich viel Haut.

Sie wissen vor Staunen nicht aus und nicht ein.
Sie stehen und wundern sich bloß.
Die Bahnen rasseln. Die Autos schrein.
Sie möchten am liebsten zu Hause sein
Und finden Berlin zu groß.

Es klingt, als ob die Großstadt stöhnt,
Weil irgendwer sie schilt.
Die Häuser funkeln. Die U-Bahn dröhnt.
Sie sind das alles gar nicht gewöhnt
Und finden Berlin zu wild.

Sie machen vor Angst die Beine krumm
Und machen alles verkehrt.
Sie lachen bestürzt. Und sie warten dumm
Und stehen auf dem Potsdamer Platz herum,
Bis man sie überfahrt.

Als Berlin nach 1945 aufhörte, Hauptstadt des Reiches und Mittelpunkt des politischen Lebens Deutschlands zu sein, wurde die Feindseligkeit, mit der man es betrachtete, zwar gemildert, aber sie verschwand nie ganz. Die Aspekte, die der Schwede Gustafsson an der Stadt anziehend fand, verfolgten viele Westdeutsche voller Argwohn, allzu leichtfertig überzeugt davon, daß die geistige Freiheit der Stadt lediglich dem Kommunismus in die Hände spiele, und sie warfen der Westberliner Universitätsbewegung vor, sie habe Umsturzgedanken im ganzen Land verbreitet. Es läßt sich unmöglich abschätzen, wie viele Westdeutsche sich gelegentlich darüber ärgerten, daß sie Steuern bezahlen mußten, um eine Stadt zu unterstützen, die so etwas zuließ, aber ein solches Ressentiment war zweifellos vorhanden und potentiell gefährlich.

Das Verhalten der nicht-seßhaften Bevölkerung (Studenten, Ausgeflippte, Stadtteilindianer, Kommunarden und Anarchisten) bedrohte ebenfalls die Stabilität und die wirtschaftliche Zukunft der Stadt, da diese Elemente imstande waren, ihre Empörung über Probleme, die sie ärgerten, an der Stadt selbst und in irrationalen Attacken auf das Eigentum auszulassen. Am 9. Mai 1970 versammelten sich aus Protest gegen das amerikanische Eindringen in Kambodscha 8000 Demonstranten auf der Hardenbergstraße zwischen Ernst-Reuter-Platz und Bahnhof Zoo, von denen eine größere Gruppe das Amerika-Haus umringte in der offenkundigen Absicht, es zu erstürmen und zu zerstören. Da die Menge nicht mit Wasserwerfern zu zerstreuen war, setzte die Polizei zum wahrscheinlich letzten Kavallerieangriff in der deutschen Geschichte mit 48 berittenen Polizisten an. Gleich ähnlichen Angriffen zu Pferde in Kriegszeiten scheiterte auch dieser aus Mangel an Reserven; als sie die Demonstranten bis zum Steinplatz zurückgetrieben hatten, wurden die berittenen Polizeikräfte mit einem Geschoßhagel begrüßt, bei dem zwei Pferde getötet und 30 weitere verletzt wurden, und sie mußten sich zurückziehen. Innerhalb der nächsten Dreiviertelstunde, während der die Polizei sich neu formierte und die Demonstranten in die Technische Universität trieb, errichtete eine Gruppe eine Barrikade vor dem Renaissance-Theater, während andere Autos umstürzten und die Scheiben von Banken und Gesellschaften wie IBM einwarfen, wobei sie zur Zerstörung der Obergeschoßfenster Fahnenstangen vom Ernst-Reuter-Platz benutzten. Alles in allem entstanden Schäden in Höhe von einer Million DM, und 250 Polizeibeamte wurden verletzt.

Zu einem ähnlichen Ausbruch irrationaler Gewalttätigkeit kam es in der Weihnachtswoche 1980 als Folge der fortdauernden Wohnungsnot in Berlin, die noch verschlimmert wurde durch Grundstücksspekulanten und Bauunternehmer, die systematisch Gebäude aufkauften, die Mieter hinauswarfen und dann die Häuser leer stehen ließen, bis sie entweder modernisiert oder abgerissen werden konnten, um neuen Gebäuden Platz zu machen. Im Jahre 1980, als 80 000 Menschen eine Bleibe suchten, standen 7000 Wohnungen leer. Diese Situation war besonders akut in Kreuzberg, einem Bezirk, der in den letzten Jahren so viele türkische Gastarbeiter angezogen hatte, daß sie 40% der Einwohnerschaft ausmachten, sowie zahlreiche Studenten, arbeitslose junge Leute und sogenannte "Freaks und Alternativler", die dieses Viertel als ideal für ihre unkonventionelle Lebensweise empfanden. Das Programm des Senats, das in Kreuzberg Erneuerung und Wiederaufbau in großem Umfang zum Ziel hatte (es führte zu einigen positiven Ergebnissen in der Nähe des Mehring-Platzes), schritt 1979 und 1980 immer langsamer voran, und da viele Gebäude leer blieben, die später abgerissen und durch neue ersetzt werden sollten, wurde das durch die Manipulation privater Spekulanten verursachte Problem noch verschärft. Aus Verzweiflung begannen Gruppen von jungen Leuten 1979 in leerstehende Gebäude einzuziehen, und Ende 1980 waren 21 Häuser in den Händen von sogenannten Hausbesetzern.

Die Möglichkeit einer Lösung dieser Situation durch Verhandlungen mit dem Senat, wie sie ein Teil der Besetzer anstrebte, wurde zunichte gemacht durch eine unkluge Reaktion der Polizei, deren Versuch, am 12. Dezember 1980 die Besetzung eines weiteren Hauses am Fraenkelufer zu verhindern, die allgemeine Befürchtung erweckte, es sei beabsichtigt, alle besetzten Häuser zu räumen. Es kam zu Demonstrationen am Fraenkelufer und am Kottbuser Tor, bei denen gewalttätige Elemente die Oberhand gewannen und Gruppen von jungen Leuten die Fenster von Banken und Supermärkten einwarfen. Die Polizei nahm 63 und bei erneuten Zwischenfällen in den Tagen darauf weitere 23 Verhaftungen vor. Die Militanten verkündeten nun, daß nicht nur Weihnachtsbäume brennen würden, wenn man die Festgenommenen nicht entließ, und sie machten ihre Drohung wahr, indem sie ihre zerstörerische Tätigkeit auf den Kurfürstendamm verlegten, wo sie sich Banken und Geschäftshäuser zum Ziel nahmen. Alles in allem kam es während der Weihnachtswoche- neben dem Scheibengeklirr am Kurfürstendamm zu sechzehn ernsthaften Schadensfällen. Unter anderen wurden eine Bankfiliale in Neukölln, ein Postamt in Wilmersdorf und eine Kirche zerstört. Am 27. Dezember ging schließlich die Haupthalle der U-Bahnstation Dahlem, ein strohgedecktes Gebäude aus dem Jahre 1912, das als architektonische Kuriosität viel bewundert wurde, in Flammen auf.

Der Senat traf daraufhin eine großzügige Vereinbarung mit den Besetzern, gewährte ihnen Mietverträge für die Wohnungen, die sie mit Beschlag belegt hatten, und eine angemessene Vergütung für die von ihnen vorgenommenen Instandsetzungsarbeiten, und versprach Ausweichquartiere für Personen die als Folge des städtischen Renovierungsprogramms ihre Unterkunft verloren hatten. Doch damit war der Schaden nicht beseitigt, den die Ausschreitungen am Kurfürstendamm angerichtet hatten, verglichen mit deren Gewalttätigkeit sich die Studentenunruhen der 60er Jahre nach den Worten eines Beobachters eher als maßvoller Protest ausnahmen. Die Berliner Morgenpost wetterte gegen "das ganze Lottervolk, ... Aussteiger jeder Art, Fixer und gewöhnliche Kriminelle". Diese Sprache war nicht ungewöhnlich für eine Springer-Zeitung, aber wahrscheinlich gab sie die Meinung vieler Berliner wieder, denen die Anwesenheit so vieler Menschen, die keine "echten Berliner" waren, in ihrer Mitte seit langem Sorge bereitete, und die sich durch deren Lebensstil zutiefst gestört fühlten. Sie neigten daher nur allzu leicht dazu, ihnen die Verantwortung zuzuschreiben für die starke Zunahme des Drogenmißbrauchs (10 000 Drogenabhängige Mitte 1978 nach der Schätzung des Senats) und der Jugendkriminalität und reagierten auf ihre explosive und zerstörerische Gewalttätigkeit mit Angst und Zorn.

Selbst wenn man die negative Auswirkung von Vorfällen der eben beschriebenen Art auf Westdeutschland und auf ausländische Firmen, die in West-Berlin zu investieren oder Niederlassungen zu errichten gedachten, außer Betracht ließ - und sie war wahrscheinlich nicht unerheblich -, waren ihre entzweienden Folgen innerhalb der Stadt selbst zu ernst, als daß man sie hätte übersehen können. Die "Frontstadt" hatte die Krisen von 1948/49 und 1961 mit einem vereinten Willen gemeistert, alle Bewohner hatten gegen den äußeren Feind zusammengestanden. Im Jahre 1980 schienen die Berliner diesen inneren Zusammenhalt nicht mehr zu besitzen, und das war ein schwerer Verlust angesichts der anderen Probleme solcher politischer wirtschaftlicher und demographischer Natur-, denen sie gegenüberstanden.